
Vibe Coding ist gerade dabei, vom Meme zum Methodentrend zu werden. Innerhalb weniger Wochen ist das Interesse durch die Decke gegangen – das zeigt nicht nur ein Blick auf Google Trends, sondern auch die Startup-Welt: Laut TechCrunch basiert ein Viertel der aktuellen Y Combinator Startup-Kohorte fast vollständig auf AI-generiertem Code. Kein Einzelfall mehr, sondern ein neues Paradigma.
Für uns im CX-Kontext stellt sich damit eine zentrale Frage: Was bedeutet diese neue „Prompt-First“-Arbeitsweise für die Gestaltung von Customer Experiences? Denn mit dem Aufkommen von Vibe Coding verändert sich nicht nur die Art, wie Anwendungen entstehen – es verändert auch, wie wir Kampagnen entwickeln, Interfaces gestalten, Bots trainieren oder Customer Journeys bauen. Und mit Vibe Marketing steht längst das nächste Buzzword vor der Tür, das genau diese Entwicklung ins Marketing übersetzt.
Im Kontext der Shift/CX Konferenzwoche haben wir intensiv über die neuen Möglichkeiten durch KI und die sich verändernden Arbeitsweisen gesprochen. Mit den Schlagworten „Vibe Coding“ und „Vibe Marketing“ manifestiert sich nicht nur ein neuer Stil – sondern ein verändertes Mindset im Projektansatz. Und genau darüber müssen wir jetzt sprechen.
Was steckt hinter Vibe Coding und Vibe Marketing?
Beginnen wir mit dem Begriff, der den Diskurs ausgelöst hat: Vibe Coding. Geprägt wurde er von Andrej Karpathy, Mitgründer von OpenAI, der die Methode so beschreibt:
„It's not really coding – I just see things, say things, run things, and copy-paste things, and it mostly works.“
Gemeint ist damit ein Prompt-basierter Zugang zur Softwareentwicklung, bei dem nicht mehr manuell Code geschrieben, sondern mit KI dialogisch gearbeitet wird. Der Mensch formuliert Anforderungen, testet Varianten, verfeinert – die KI liefert ausführbare Vorschläge. Die Rolle verschiebt sich: vom Entwickelnden zum steuernden Kurator. Es ist keine methodische Revolution, wohl aber ein kultureller Wandel.
Vibe Marketing überträgt diesen Ansatz auf Marketing- und Kommunikationsprozesse: Marketer:innen beschreiben Zielsetzungen, lassen Inhalte oder Strategien generieren, testen Varianten und passen Ergebnisse iterativ an – gemeinsam mit der KI. Wie der AI Marketing Navigator es ausdrückt:
„Essentially what AI-savvy marketers are already doing – just now with a name.“
Die Besonderheit liegt in der Geschwindigkeit und Zugänglichkeit: Ideen entstehen dialogisch – nicht in langen Planungszyklen. Personas, Claims, Headlines oder Content-Strukturen entstehen in kürzester Zeit als Vorlagen, die weiterverarbeitet oder angepasst werden können.
Aber: Marketing bleibt zielgerichtet – es geht letztlich immer um Wirkung. Das heißt auch: Es reicht nicht, Ideen zu produzieren. Wir müssen sie auf Zielgruppenresonanz, Markenpassung und strategischen Fit prüfen. Genau hier entsteht das Interesse von Investoren, wie Forbes analysiert:
„The next marketing unicorn won't be optimizing funnels – it will be curating vibes that sell.“
Und für uns als CX-Professionals heißt das: Wir müssen die Zusammenarbeit mit KI neu denken – nicht als Automatisierung, sondern als Co-Kreation.
Der neue Arbeitsmodus: Prompt statt Plan
Wenn wir über Vibe Coding oder Vibe Marketing sprechen, geht es nicht um das Ende von bewährten Arbeitsmethoden – sondern um deren Verkürzung, Verlagerung und teilweise Auflösung. Die Prinzipien von agilem Arbeiten oder konzeptionell-analytischem Marketing bleiben gültig. Aber die Art, wie wir mit ihnen arbeiten, verändert sich grundlegend.
Beim Vibe Coding zeigt sich das deutlich: Agile Entwicklung setzt auf kurze Feedbackzyklen, schnelle Tests, iterative Verbesserung. Genau das macht Vibe Coding auch – aber ohne tiefes technisches Verständnis. Die technische Komplexität verschwindet hinter einer KI-Schnittstelle. Entwickler:innen – oder auch Fachfremde – beschreiben Absichten, Ziele oder Probleme in natürlicher Sprache. Die KI liefert Vorschläge, die getestet, variiert und selektiert werden.
Das verändert nicht die Logik des agilen Arbeitens – wohl aber die Zugänglichkeit und die Steuerung. Wer früher einen Sprint geplant hat, experimentiert heute mit Prompts. Der Code wird nicht mehr gebaut – er wird kuratiert.
Im Marketing und in der CX-Arbeit sehen wir eine ähnliche Verschiebung. Auch hier war es schon immer Teil der Praxis, Stakeholder zu analysieren, Personas zu definieren, Hypothesen zu testen und Ideen zu verproben. Doch mit Vibe Marketing verändert sich die Taktung – und vor allem der Prozessbeginn.
Wir müssen nicht mehr wochenlang Research betreiben, um erste Kampagnenideen zu entwickeln. Stattdessen liefert die KI – basierend auf vorhandenen Zielgruppeninformationen oder Prompt-Iterationen – erste brauchbare Ansätze in Minuten. Der kreative Prozess wird durch die KI nicht ersetzt, sondern beschleunigt und verschoben.
Das bringt uns zum sogenannten Stingray-Modell (Rochen-Modell), welche beim Board of Innovation umfangreich beschrieben wird und die KI-gestützte Arbeitsweise im Design-Prozess verdeutlicht. Letztlich ist es die Transformation des klassischen Double Diamond-Prozesses mit einer ausgedehnten Experimentier- und Testphase (siehe nachstehende Illustration und Beitrag bei Board of Innovation).
Was ist eigentlich das Stingray-Modell?
Das Stingray-Modell beschreibt eine KI-gestützte Weiterentwicklung des klassischen Double-Diamond-Prozesses. Während dieser typischerweise aus zwei klar getrennten Phasen besteht – dem Problemraum („Discover“ und „Define“) und dem Lösungsraum („Develop“ und „Deliver“) – verschiebt das Stingray-Modell diese Struktur grundlegend.
- Phase 1 – Komprimierter Problemraum:
Mithilfe generativer KI-Tools werden in kürzester Zeit erste Hypothesen, Perspektiven, Personas oder Pain Points erzeugt. Anstatt aufwendiger Research-Prozesse übernimmt die KI einen explorativen Vorlauf – iterativ, promptbasiert und simulativ. - Phase 2 – Erweiterter Lösungsraum:
Der kreative Lösungsprozess wird gestreckt. Iterationen, Tests, Varianten und Anpassungen dominieren den weiteren Verlauf. Mensch und KI arbeiten hier ko-kreativ an der Verfeinerung und Umsetzung der Lösungsideen.
Die Visualisierung erinnert an einen Rochen (Stingray): ein kompakter Kopf, der den Problemraum symbolisiert, und ein breiter, flexibler Körper für den Lösungsprozess. Das Modell steht für eine neue, KI-beschleunigte Dynamik in Innovations- und Designprozessen.
Quelle: Board of Innovation – The AI-Powered Stingray Model
Wo früher „Discover“ und „Define“ zeitintensive Phasen waren, in denen wir uns mit Problemverständnis, Zielgruppen und Botschaften auseinandergesetzt haben, entsteht nun ein verkürzter, KI-gestützter Vorraum. Wir starten direkt in der Exploration – und reflektieren unterwegs.
Für uns als CX-Verantwortliche bedeutet das: Wir müssen nicht alles umwerfen, aber wir müssen umdenken.
- Wir arbeiten mit KI nicht linear, sondern ko-kreativ und dialogisch.
- Wir verlassen uns weniger auf Vorab-Planung, sondern auf Prompt Literacy und Resonanzfähigkeit.
- Wir brauchen neue Formen der Reflexion, weil wir schneller im Lösungsraum sind, ohne alle Fragen gestellt zu haben.
Das ist der eigentliche Shift: Vom planbasierten Projekt hin zur promptgesteuerten Co-Kreation – mit mehr Verantwortung, nicht weniger.
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Anwendung in der CX-Praxis und die Demokratisierung des CX-Handwerks
Was bedeutet Vibe Coding und Vibe Marketing nun für die Arbeit im Customer Experience Management? In den Diskussionen auf den Shift/CX Veranstaltungen zum KI-Einsatz im CX Management wurde herausgestellt: Die KI bietet die technologische Basis, mit der wir aufwendige analytische Prozesse beschleunigen können. Wir können nun schnell erste Ideen sichtbar und diskutierbar machen, was die Zusammenarbeit verändert – in Teams, mit Agenturen, in der Abstimmung mit Stakeholdern.
Gleichzeitig müssen wir realistisch einschätzen, wo die Branche heute steht. Denn so sehr wir von einer datenbasierten, kontextsensitiven und systematisch entwickelten CX-Arbeit sprechen – in der Praxis ist dieses Niveau längst nicht erreicht. Viele Unternehmen stehen noch am Anfang, wenn es um integriertes Journey Management, nutzbare Feedbacksysteme oder klare Zielgruppenmodellierung geht.
Gerade für diese Organisationen eröffnet der Einsatz generativer KI neue Wege. Die Arbeit mit LLMs und Prompt-basierten Tools kann dort einen niedrigschwelligen Zugang zu strategischen CX-Aufgaben schaffen, der bislang stark von verfügbaren Ressourcen oder Expertenwissen abhing. Vibe Marketing wird damit nicht nur zum Beschleuniger – sondern auch zum Demokratisierer konzeptioneller Arbeit.
Typische Anwendungsfelder:
- Journey-Prototyping
Erste Ablaufmodelle, Touchpoint-Skizzen oder Friction-Point-Analysen lassen sich promptbasiert erstellen. Gerade in der Frühphase von Initiativen können so Ideen erzeugt werden, die im Team diskutierbar und weiterentwickelbar sind. - Conversational Experience Design
Mit Tools wie Voiceflow, Botpress oder direkt über ChatGPT lassen sich Dialogverläufe, Sprachlogiken und Tonalitätsvarianten explorieren – schneller und iterativer als mit klassischen Conversation Maps oder UX-Vorlagen. - Kampagnenentwicklung
Messaging-Frameworks, Headline-Varianten oder Content-Formate können promptbasiert generiert und vorab durchdacht werden – eine wertvolle Unterstützung in Kreativprozessen, insbesondere bei limitierten Ressourcen. - Persona-Entwicklung und Perspektivwechsel
Die Simulation von Zielgruppenreaktionen, Tonalitätspräferenzen oder Nutzungsszenarien mit KI ermöglicht Perspektivwechsel – die jedoch einer fundierten Validierung bedürfen.
In der einfachen Umsetzung liegt dann aber auch die Herausforderung: Je schneller und einfacher Ideen mit Hilfe generativer KI erzeugt werden, desto größer wird die Gefahr, dass wir Ergebnisse auf Basis synthetisch erzeugter Annahmen entwickeln – ohne sie systematisch mit der tatsächlichen Kundenrealität abzugleichen. Das Risiko besteht darin, dass wir plausible Erlebniskonzepte und Kommunikationsansätze generieren, die sich kohärent anfühlen – aber nicht validiert sind.
Diese Gefahr betrifft insbesondere Organisationen mit noch unzureichend etablierten Feedbackprozessen und Customer-Insight-Strukturen. Ohne echte Kundendaten, Verhaltensbeobachtung oder qualitative Rückkopplung laufen wir Gefahr, mit hoher Geschwindigkeit an den tatsächlichen Bedürfnissen vorbeizuentwickeln – auch wenn die KI-gestützten Ergebnisse im ersten Moment überzeugen.
In den Diskussionen auf den Shift/CX Veranstaltungen wurde mehrfach betont: Die Arbeit mit KI erfordert neue Qualitätsstandards und Governance-Routinen, mit denen wir den Einsatz der KI - egal ob im kreativen Design-Prozess oder in der operativen Interaktionsaussteuerung überprüfen und kontrollieren können. Die Herausforderung liegt also darin, die Geschwindigkeit und Zugänglichkeit der neuen Werkzeuge mit methodischer Sorgfalt und kritischer Reflexion zu verbinden. Wer das schafft, kann nicht nur effizienter, sondern auch besser arbeiten – unabhängig von Teamgröße oder Budget.
Fazit: Zusammenarbeit mit KI neu denken – im CX-Kontext strategisch, bewusst und wirksam
Die Begriffe Vibe Coding und Vibe Marketing waren der Anlass für diesen Beitrag – doch im Kern geht es um etwas Grundsätzlicheres: den Wandel der Arbeitsweisen im Zeitalter generativer KI.
Wir erleben, wie sich Aufgaben im CX-Design und -Management verschieben – weg von linearen Prozessen, hin zu dialogischer, promptbasierter Co-Kreation. Das eröffnet neue Spielräume, insbesondere für kleinere Teams oder Organisationen ohne ausdifferenzierte Strukturen. Doch mit dieser Dynamik wächst die Verantwortung, die Qualität zu sichern und Kundenrelevanz nicht aus den Augen zu verlieren.
Auf dem Weg dorthin müssen wir noch einige Hausaufgaben lösen - u.a. Folgendes:
- Prompt Literacy und Ergebnisverantwortung gehören zusammen.
Nicht die Fähigkeit zur Generierung zählt, sondern zur Bewertung und Steuerung. - Schnelligkeit darf nicht zu Sorglosigkeit führen.
Reflexion, Datenabgleich und Feedback bleiben unverzichtbar. - CX-Exzellenz entsteht im Zusammenspiel von Mensch und Maschine.
Es braucht neue Rollen, klare Standards und eine Kultur, die Co-Kreation ermöglicht – nicht nur technisch, sondern auch strukturell.
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